Klassik für die Seele

We’ve a Story to Tell for the Nations

Buchholz, den 4.4.2022

Neulich meinte ein guter Freund von uns, dass er in letzter Zeit immer mehr die klassische Musik für sich entdecke. Und ich wiederholte mich wahrscheinlich, als ich erneut erzählte, wie ich vor Jahren im Autoradio zufällig beim Suchen auf einen klassischen Sender traf und dabei bemerkte, dass die Felder ringsumher mit einem Male so ganz anders aussahen, die ganze Landschaft nun erhaben strahlte, als sei sie neu beleuchtet worden.

Was meinst Du? Willst Du vielleicht etwas zu meinen Lieblingsstücken hören? Ich gebe Dir jetzt jeweils einen Youtube Link dazu, damit Du gleich dabei sein kannst, wie ein außergewöhnliches Orchester ein außergewöhnliches Stück inszeniert (Für den Inhalt und dahinter oder vorgeschaltete Werbung kann ich allerdings keine Haftung oä übernehmen, das ist eine andere Website, die mir nicht untersteht. Zu dem angegeben Zeitpunkt war der Inhalt genauso, wie ich angegeben habe).

Ich bin keine Musikerin, ich höre nur sehr intensiv und dies wurde glücklicherweise von einem Lehrer geschult, der uns Schülern eines Tages aufgab, Variationen aus einem Musikstück herauszuhören und dafür Antonίn Dvořáks 9. Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ auswählte. So begann es bei mir mit der klassischen Musik.

Die Sinfonie/Symphonie Aus der neuen Welt fasziniert mich bis heute und sie passt gerade in diesem Moment zu meinem Leben: Vieles in ihr wirkt heiter und tänzerisch und doch sind wie aus der Ferne drohende Untertöne zu hören und Themen werden plötzlich dramatisch. Das nimmt meine Stimmungen auf und trägt doch darüber hinaus. Kann ich sagen, ich fühle mich von der Musik verstanden? Ich komme jedenfalls etwas über diese merkwürdige Zeit und bekomme einen anderen Blick darauf. Es tut mir schlicht gut. Erfüllt und hoffnungsvoller komme ich wieder zurück auf meinen Platz, ob im Konzertsaal, im Wohnzimmer, am Schreibtisch oder sogar im Auto.

  • Dvořák: 9. Sinfonie (»Aus der Neuen Welt«), 1893, hr-Sinfonieorchester unter Andrés Orozco-Estrada, hier von 2018 aus der Alten Oper Frankfurt: https://youtu.be/jOofzffyDSA , 4.4.2022.

Etwas später war meine Mutter einmal so großzügig und nahm mich (da war ich 15) mit nach Salzburg, wo sie für horrendes Geld zwei Karten für den Rosenkavalier erstanden hatte. Obwohl ich damals ein widerspenstiger Teenager war, hat mich die Musik aber doch erwischt und ich bin immer noch sehr glücklich darüber. Meine Mutter hat, als sie danach auf der Straße von einer Dame angesprochen wurde, sofort erneut zugegriffen und somit zwei weitere Karten, diesmal für die Pathetic von Tschaikowsky erstanden. Ich durfte wieder mit ihr mit und konnte dort mit der Musik mitschweben. Sie ist sanft, doch kaum weniger gewaltig als das eben genannte Stück und kann mich erwischen und gefühlsmäßig neu aufstellen. Gerade jetzt beim Schreiben höre ich sie wieder an. Gut, dass es diese Stücke immer noch gibt und wir sie auch heute noch, immer neu eingespielt, hören können. Danke an die Musiker und Orchester und Dirigenten.

  • Tschaikowsky’s Pathetic, Symphonie Nr. 6 in B Minor, 1893, hier von 2014, Orchestre de France unter Daniele Gatti, Théâtre des Champs Elysées: https://youtu.be/nUG8O4q0NsY ,4.4.2022.

Im Moment sind wir noch mitten in der Passionszeit (deshalb sind Ostereier auch noch ein wenig unpassend; versteht man sie tatsächlich als Tradition und nicht als reines Design, geht das Schmücken mit ihnen eigentlich erst ab Ostersonntag früh los), dann könnte man sich tatsächlich auch mal ein Requiem anhören. Die sind ja bewusst etwas schwermütiger gehalten, aber sogar das kann, z.B. in solch aufreibenden Zeiten wie dieser, wirklich wohltun.

Durch den „Amadeus“-Film, 1984, bin ich damals auf das Requiem von Mozart gestoßen. Es ist übrigens wahr: Mozart starb während der Komposition. Zwei Drittel hatte er schaffen können. Kann man das heraushören oder –fühlen? Ich habe sie jedenfalls immer, immer wieder angehört, dabei bin ich bestimmt eine fröhliche, junge Frau gewesen. Und sie rührt mich immer noch an, die Klangfülle, die Moll Harmonien, vielleicht ist das gerade jetzt auch etwas für Euch!

  • Mozart: Requiem, 1791, Orchestre national de France unter James Gaffigan, von 2017, Basilique de Saint-Denis: https://youtu.be/Dp2SJN4UiE4 ,5.4.2022.

Jahrzehnte später mit Christoph, wieder in Salzburg, unverhofft waren wir eingeladen zum Lobgesang von Mendelssohn. Erst Orchester, dann zusammen mit Chor und Solisten: „Hüter, ist die Nacht bald hin?“, wie passend ist diese Symphonie auch heute?

  • Mendelssohn: Symphony No. 2 „Hymn of Praise“, 1840, hier von 2015, englisch, Eastman School Symphony Orchestra unter David Chin: https://www.youtube.com/watch?v=QQg-8NeIQDc , 4.4.2022.
  • Mendelssohn Bartholdy: ‚Lobgesang‘, also deutsch, 1840, hier von 2005, Riccardo Chailly and the Leipzig Gewandhaus Orchestra, https://youtu.be/6ZvyRyth3nU ,4.4.2022.

Und doch irgendwie verrückt, wir kamen erfüllt an diesem Abend in unser Hotel zurück, wie kann man dann nur den Fernseher anmachen? Na, genau das taten wir dennoch und es begann genau in diesem Moment genau in dem Sender, der aufflimmerte, „Into the Woods“, ein Broadway Musical, dass ich 1988 zum ersten Mal hören durfte. Ja, man weiß später tatsächlich noch die Jahreszahlen und Umstände, auch noch das Bühnenbild dazu, wenn man Musik, die nahegeht, zum ersten Mal hören darf. Christoph war damals nicht dabei gewesen und so freute ich mich jetzt, dass wir diesmal zusammen von vorne bis hinten das gesamte Musical, mitten in der Nacht, zu sehen und zu hören bekamen.

Musical ist ja Musik und Text, beides muss für uns stimmen, damit wir uns darauf einlassen können. Und dieses Stück hat Witz und Charme und Weisheit. Glücklicherweise auch in der Filmfassung, die ich Dir leider nicht als Link senden kann.

Aber es lässt sich ein Stück daraus finden, von Barbra Streisand gesungen, einmalig, das verlinke ich hier:

Eine Geschichte zu Händels Messiah kann man lesen von Stefan Zweig. Sehr beeindruckend, wie dieses Stück entstanden ist, es ranken sich etliche Legenden darum. Wie Händel, der kranke Hüne, durch das Schreiben dieses Oratoriums wieder ins Leben kam.

Ich selbst bin 2010 dadurch, dass ich während eines Delfinschwimmen Kurses durch Key West radelte, zu meiner Lieblingskirche dort gekommen und damit zu diesem Stück und damit auch zum Studium. Jedes Mal, wenn der Chor dort das Halleluja anstimmte, war ich noch lange hinterher damit beschäftigt, meine Tränen abzuwischen. Denn in dieser Kirche hebt sich das Dach, wenn alle anstimmen und der Klang wird auf die Zuhörenden reflektiert. Da bleibt kein Auge trocken!

Gar nicht erwähnt habe ich Bach, jedenfalls nicht in diesem Rundbrief, aber ansonsten schon sehr häufig, weil das Weihnachtsoratorium – und auch der Text – mir regelmäßig inneres Glück spendet. Aber diese Zeilen hier oben waren auch nur ein kleiner Ausflug in die klassische Musik, um ein wenig an sie zu erinnern, als Stütze in diesen Tagen. Dennoch gibt es damit schon einige Stunden zu hören, wenn Ihr Euch darauf einlassen wollt.

Bestimmt habt Ihr auch solche Erlebnisse oder Musikstücke, die Euch jedes Mal berühren und mit denen Euch vielleicht eine Geschichte verbindet? Vielleicht auch etwas Ausgefalleneres, die hier erwähnte Musik ist ja sehr geläufig. Schreibt doch mal dazu, ich würde das auch gerne hören!

Wir können das Erlebnis, dass Musik uns wohltut, vielleicht sogar rettet, natürlich ganz genauso mit Songs von heute erleben. Filmmusik z.B. ist ja bewusst dafür geschrieben, Gefühlswelten zu erzeugen und die Hörenden mitzureißen.

Ich musste gerade auch an folgende Geschichte denken:

Stevie Wonder hatte 1973 einen Autounfall und fiel dabei ins Koma. Ein Freund hat ihm schließlich „Higher Ground“ vorgespielt, ein Stück, das Wonder frisch geschrieben, aufgenommen und herausgebracht hatte (er selbst spielt jedes Instrument dabei), es handelt von einer zweiten Chance im Leben. Als es ihm vorgespielt wurde, waren seine Finger, die er im Takt mitbewegte, das erste Zeichen eines Aufwachens.

Von daher: Es ist nur wichtig, dass uns die Musik – genauso der Text – in guter Weise berührt, dann hilft sie über unsere Traurigkeiten, unsere Ängste, unsere Sorgen hinweg in höhere Ebenen. Das könnte uns jetzt vielleicht guttun.

2012 schrieb ich einmal: „Kann es uns gelingen, den Blick für das Schöne zu behalten, ohne die zu ignorieren, denen es nicht gut geht?

Kann es uns gelingen, aufmerksam gegen Missstände zu sein, ohne dabei „aus dem Paradies zu fallen“ (weil wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben)?

Also: Kann es uns gelingen in paradiesischem Zustand zu leben, eben die Schönheit des Lebens in vollen Zügen zu genießen, und gleichzeitig die weniger Glücklichen zu achten und dorthin mitzunehmen?

Ich selbst habe ja manchmal eine Art selektive Wahrnehmung: Ich gehe normalerweise gar nicht erst in Gegenden herum, in denen es gefährlich oder schlimm ist. Es ist eine Art Selbstschutz oder unbewusster Lebenserhalt, sowohl meiner körperlichen Gesundheit, wie auch meiner Seele. Oder vielleicht machten auch die Gefahren einen Bogen um mich herum? In der Schule z.B. wurde an den Tischen neben mir mit Drogen gehandelt. aber ich wurde in Ruhe gelassen – ja, sie wurden mir noch nicht einmal, auch nicht ein einziges Mal, angeboten. Ich bin dankbar, wie heile ich durch meine Jugend gekommen bin! Und heute will ich immer noch die schönen und guten Momente des Lebens wahrnehmen. Wahrnehmen in doppelter Hinsicht, nämlich sehen und ergreifen.

Ich weiß um die Probleme um mich herum, das ist so, schon durch meinen Beruf. Dennoch und gerade deshalb will ich, ganz bewusst, immer wieder das Gute sehen und glauben, – weil es dann eher gelingen kann. Sind wir hoffnungslos, haben wir doch schon verloren.

So sitze ich also, heute wie damals, manchmal eine ganze Stunde lang bei Musik und verdaue alles Gehörte und Erlebte… Und danach mache ich weiter. irgendwie geht es mit Musik besser.“

Vielleicht lässt uns Musik ja Dinge verstehen, die ansonsten über unseren Verstand gehen?

„Dreißig Jahre weilte er auf der Erde und als er sie verließ, war sie bereichert, neu und durch seinen Besuch gesegnet.“ Das sagte Leonard Bernstein über Mozart.

Ja, das können wir immer noch spüren und an uns geschehen lassen.

Ich grüße herzlich!

Cornelia Cornels-Selke